Bündnis 90/Die Grünen - Grit Michelmann

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Die Grünen - Grit Michelmann
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Interview mit Grit Michelmann zur Bundestagswahl 2017 für den Stadtsportbund Halle (Saale) e. V.

„Der DOSB sollte mehr Förderung für den Sportstättenbau vom Bund fordern!“

Frau Michelmann kämpft sich mit dem Fahrrad nach Halle-Neustadt. Sie ist mit Zwillingen hochschwanger. Ich treffe die bald fünffache Mutter an einem der wenigen sonnigen Tage auf dem Gelände des Sportkomplexes Nietlebener Straße. Fahrrad angeschlossen, Anstrengung fix abgeschüttelt und schon beginnt mein Interview mit der 34-jährigen Powerfrau, so mein erster und zweiter Eindruck.

Frau Michelmann, ehe wir auf den Sport eingehen, wie wurden Sie Politikerin?
1998 begann mein gesellschaftliches Engagement mit Demonstrationen gegen den Kosovokrieg. 2004 stellten Bündnis90/Die Grünen mich für den Stadtrat in meiner Geburtsstadt Aschersleben auf und ich wurde gewählt. Später trat ich der Partei bei, weil ich mich mit ihren Zielen am ehesten identifizierte. Mich reizte der Gedanke, Klima- und Umweltschutz nicht als Gegensatz, sondern als Motor für Wirtschaftsentwicklung und den Erhalt von Arbeitsplätzen zu verstehen.

Was erwarten Sie von der Bundestagswahl im September?
Das Direktmandat zu gewinnen ist unwahrscheinlich. Ich bringe mich in einem Umfeld der Polarisierung in die öffentliche Diskussion ein. Ich führe viele Gespräche (wie dieses… lacht) und transportiere als Sprachrohr in Halle grüne Inhalte. Damit unterstützen wir auch Claudia bei ihrer Arbeit als Ministerin (Anm. d. Red.: Prof. Dr. Dalbert, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft und Energie in Sachsen-Anhalt). Wir wollen die Wahlziele von Bündnis90/Die Grünen erreichen, über 5 % der Zweitstimmen in Sachsen-Anhalt schaffen und drittstärkste Kraft im Bundestag werden.

Hatten und haben sie Bezüge zum Sport?
Ich würde mich als basketballspielende Handballerin bezeichnen – ein Grund für unser Treffen an der Ballsporthalle. Ich spiele gern körperbetont, typisch Handballerin, und mag die Eleganz des Basketballspiels. Ballsportarten sind mir gewissermaßen in die Wiege gelegt, was ich für mein politisches Engagement als Vorteil betrachte, denn im Team kann man meist mehr erreichen. Gegenwärtig schwimme ich und bin Sportmama für meinen ältesten Sohn. Er spielte auch Handball bei Union Halle-Neustadt. An dem Verein schätzte ich die Sensibilität im Umgang mit den Kindern. Die Trainerin und Geschäftsführerin Dana Neutag mochte ich besonders. Gegenwärtig schwimmt mein Sohn beim SV Halle.

Die anderen Kinder?
…sind mit 2 Jahren und 10 Monaten noch zu klein.

Hat Ihr Vater was mit Handball zu tun?
Gut recherchiert, mein Vater ist seit zwei Jahren der Präsident des Deutschen Handballbundes.

Dann kennen Sie die Situation des Spitzensports in Deutschland?
Ich bin keine Expertin, habe aber eine Meinung. Wenn das Bundesinnenministerium mit dem DOSB und den Spitzenverbänden eine Reform der Spitzensportstrukturen und die Verringerung der Bundesstützpunkte vereinbart, muss es seine finanziellen Zusagen halten. Bislang ist die besprochene Summe nur teilweise geflossen (Anm. d. Red.: Quelle FAZ). Soll der deutsche Spitzensport international mithalten können, müssen die Rahmenbedingungen konkurrenzfähig sein. Das kostet, macht sich aber auch bezahlt. Spitzenathleten sind wichtige Motivatoren für Kinder und Jugendliche.
Die Bundesstützpunkte in Halle sollten möglichst erhalten werden. Wir haben hier über Jahrzehnte gewachsene Strukturen, die nicht leichtfertig aufgegeben werden sollten.

Das Sportvereinswesen in Deutschland ist in Europa etwas Besonders. Setzen sie sich für dessen Schutz ein?
Es geht Ihnen um die Mehrwertsteuerrichtlinie der EU? Auf Vereinsbeiträge Mehrwertsteuer zu erheben wäre ein falsches Signal in Richtung des für den Sport unverzichtbaren Ehrenamtes. Ich gehe fest davon aus, dass alle politischen Kräfte in Deutschland das Sportvereinswesen als nationales Spezifikum schützen werden. Im Zuge der Umsetzung der Bankenrichtlinie der EU ist die Verteidigung des Sparkassenwesens in Deutschland auch gelungen.

Welche Meinung haben Sie als Grüne zu Sportgroßveranstaltungen?
...eine grundsätzlich positive. Sie haben eine Lokomotivfunktion für den Kinder- und Jugendsport und gehören zur Kultur des Sports. In Halle haben wir gute Erfahrungen mit nationalen und internationalen Jugendwettkämpfen und den Traditionsveranstaltungen, wie z.B. dem Chemiepokal, den Werfertagen und dem Mitteldeutschen Marathon. 
Was Großveranstaltungen im internationalen Maßstab betrifft, sehen die Grünen Investitionen in Bausubstanz, die nicht nachgenutzt werden kann, kritisch. Gute Lösungen fanden die Veranstalter in London 2012. Man baute modular und konnte die Sportanlagen nach einem Teilrückbau dem regionalen Sport übergeben. Olympische Dörfer könnten zu Sozialwohnraum umgewidmet werden usw.

Haben Sie eine Vorstellung von der Bedeutung von Glücksspiel für den Sport? Beim staatlichen Lotto fließt die Hälfte der Spieleinsätze in soziale, kulturelle und sportliche Projekte. Private Sportwettenanbieter z.B. bwin verdienen mit Wetten auf sportliche Leistungen.
(Anm. d. Red.: nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2006 drängen private Sportwettenanbieter auf den Glücksspielmarkt und konkurrieren mit dem staatlichen Lotto)
Mir ist bekannt, dass dieser Wettbewerb zu weniger Lottoeinnahmen führt. Unternehmen, die mit Sportwetten Geld verdienen, müssen in die Verantwortung genommen werden, den Sport zu unterstützen.

Der DOSB fordert vom Bund 500 Mio. € jährlich für den Sportstättenbau…
…der DOSB sollte mehr fordern. Deutschland hat im Moment kein Finanzierungsproblem. Die Bundesregierung liebäugelt mit dem Gedanken, die Rüstungsausgaben von 1,2 auf 2 % des BIP anzuheben. Bündnis90/Die Grünen wollen stattdessen dem Sanierungs- und Investitionsstau der öffentlichen Infrastruktur abbauen. Das ist sowohl für die Sportlerinnen und Sportler als auch die öffentlichen Haushalte sinnvoll. Ich denke an die Sporthalle am Bildungszentrum, in der ich selbst gespielt hatte. Sie ist nicht gedämmt und im Winter stehen die Fenster offen, weil sie überheizt ist und über keine moderne Lüftung verfügt. Entsprechend hoch sind die Betriebskosten, die wiederum von der öffentlichen Hand getragen werden.
Besonders am Herzen liegen Bündnis90/Die Grünen öffentlich zugängliche Sportplätze. Ich habe das Bild vom Bolzplatz an der Straße der Opfer des Faschismus vor Augen, wie Menschen verschiedenster Herkunft gemeinsam Fußball spielen. Diese Plätze müssten Integrationspreise erhalten.

Was halten Sie von Kinderlärm?
Was wird Ihnen eine bald fünffache Mutter wohl darauf antworten? Geräusche von Kindern als Lärm zu bezeichnen, ist mir suspekt. Was die Gleichstellung von Kinder“lärm“ auf Sportanlagen mit erlaubtem Kinder“lärm“ auf Spielplätzen betrifft, sind Bündnis90/Die Grünen natürlich dafür. Meines Wissens hat der Bundesrat einen Gesetzesentwurf eingebracht, mit dem dieses Ziel realisiert werden soll.

Wohlstandserkrankungen werden in den Medien in einem Atemzug mit Bewegungsmangel genannt. Ist es Zeit für ein nationales Gesundheitsziel „Bewegungsmangel reduzieren“?
Bedarf es dieser Formalie? Bündnis90/Die Grünen achten die individuellen Freiheitsrechte. Grundsätzlich ist es Sache der Bürgerinnen und Bürger, ihr Leben mit ausreichend Bewegung zu gestalten. Hilfe stellen die Krankenkassen, die den Rehabilitationssport finanzieren und Präventivmaßnamen mit 80 % unterstützen. Von staatlicher Seite sollte auf eine bewegungsfreundliche Infrastruktur in Kombination mit einem guten öffentlichen Nahverkehr geachtet werden. Was die Kinder und Jugendlichen betrifft, ist es unproblematisch bewegungsfreudige Kinder in Vereine zu integrieren. Bundesweit sind über 80 % der Jungen und über 60 % der Mädchen Mitglied in einem Sportverein. Sorgen bereiten die Kinder, die den Weg zum Sportverein nicht finden und sich zu wenig bewegen. Für sie brauchen wir eine Stärkung der Kooperationen zwischen Kindergärten, Schulen und Sportvereinen.

Sie sehen insofern Bildungsverantwortung beim Vereinssport?
Ja, wir brauchen z.B. den Ausbau gemeinsamer Konzepte für Ganztagsschulen. Kinder und Jugendliche sollten unmerklich an ein lebenslanges Sporttreiben herangeführt werden. Ein weiteres wichtiges Bildungsthema betrifft die Gewinnung von jungen Menschen für zivilgesellschaftliches Engagement. Bündnis90/Die Grünen unterstützen die Idee eines gemeinsamen konzeptionellen Vorgehens des öffentlichen Bildungsbereichs mit dem Sport.

Wenn Sport zusätzlichen sozialen Mehrwert schaffen soll, bedarf es neben öffentlicher Anerkennung auch staatlicher Unterstützung?
Es kommt auf den sozialen Mehrwert an. Wenn ein spezifischer Bedarf besteht, sollte spezifisch gefördert werden. Ich denke an das Projekt der DLRG Halle/Saalekreis. Sie bringen Flüchtlingen das Schwimmen bei, die in ihren Heimatländern keine Möglichkeiten hatten oder auf der Flucht waren.
Den Staat sehe ich in der Pflicht, für eine barrierefreie Sportinfrastruktur zu sorgen. Die politische Frage ist, ob in Zeiten, in denen gesamtgesellschaftlich Überschüsse erwirtschaftet werden, aufgeschobene Investitionen nachgeholt werden sollten. Wir meinen ja.

Staatsziel Sport im Grundgesetz – ein zu großes Ziel?
So einfach lässt sich das nicht beantworten. Sport ist bedeutend. Er entfaltet soziale Bindekräfte. In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich sind mehr Menschen engagiert. 
Es muss klar sein, welchen Sport mit welchen Zielen der Staat in den Fokus nehmen soll. Eine Kommission müsste die dunklen Seiten der Vergangenheit des Sports aufarbeiten. Ich denke an funktionalen Missbrauch durch den Staat z.B. zur Wehrertüchtigung oder die politische Instrumentalisierung der Sportler.  Aus meiner Sicht schöpft Sport seinen Sinn aus sich selbst, d.h. er sollte in erster Linie kein Mittel für andere Zwecke sein.

Wie meinen Sie das?
Sie kennen den Slogan von MDR Figaro – „Kultur und gut“? Das gilt meines Erachtens auch für den Sport. Sport ist bedeutend, weil er die Menschen zusammenbringt und Spaß macht – mehr bedarf es nicht. Wichtig erscheint mir der Anspruch „Sport für alle“. Sport sollte nichts elitär Ausschließendes sein.

Das Interview führte Oliver Thiel, Geschäftsführer des Stadtsportbundes Halle e.V.

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