Hindernisse überwinden!
Es ist Freitag Nachmittag, 14 Uhr. Der Himmel ist ein wenig grau, doch für einen Tag im November ist es ziemlich warm. Viele Pferdefreunde beschäftigen sich mit ihren Vierbeinern auf den Paddocks und dem Reitplatz der Heideranch in Nietleben und aus der großen orangenen Reithalle hört man ein Klappern und ab und zu ein dumpfes Poltern.
Ghasem Zonoubi ist dort gerade dabei, Hindernisse für die kommende Springstunde aufzubauen. Er stammt ursprünglich aus dem Iran, 2014 aber kam er aus religiösen und politischen Gründen mit seiner Familie nach Deutschland. Eine Integrationsmaßnahme des Internationalen Bundes sorgte schließlich dafür, dass er in die Saalestadt zog.
„Er wollte unbedingt etwas mit Pferden machen“, berichtet Olaf Trübner, der Vorsitzende des Reitsportvereins Halle (Saale) e. V.
Dass sich Ghasem Zonoubi mit Pferden auskennt, das sieht man schon allein an der routinierten Art und Weise, mit der er die passenden Abstände zwischen den Sprüngen festlegt. Mit großen Schritten geht er die Distanz zwischen zwei Stangen ab, die auf dem Boden liegen. Die hintere rollt er daraufhin noch einen halben Meter weiter. Beim zweiten Messen ist er mit dem Abstand zufrieden. Dort, wo die Stangen liegen, stellt er Hindernisständer auf und hängt die Stangen ein – zunächst eher niedrig. Doch er muss nicht allein schleppen, denn auch der Vereinsvorsitzende Olaf Trübner, der Springtrainer Jürgen Schnelle und sogar die Mutter einer Reitschülerin packen mit an. Wer in die Reithalle kommt und Arbeit sieht, der hilft einfach mit.
Es scheint ein Phänomen aus der Welt der Pferde und Reiter zu sein, dass man in Gegenwart der Vierbeiner irgendwie doch die gleiche Sprache spricht, auch wenn man sonst Probleme mit der Verständigung hat. Ghasem Zonoubi ist der beste Beweis dafür. Er arbeitet täglich auf der Heideranch und er kommt zurecht, auch wenn ihm die deutsche Sprache noch immer einige Schwierigkeiten bereitet. Das Verständigungsproblem war auch einer der Gründe, weshalb Ghasem in die Integrationsmaßnahme geschickt wurde.
„Es ist noch lange nicht perfekt mit der Verständigung, aber Ghasem ist sehr bemüht und es wird schon besser“, resümiert Olaf Trübner.
Die wichtigsten Arbeitsanweisungen und Begriffe aus der täglichen Arbeit mit den Pferden sind Ghasem Zonoubi schon gut bekannt und sogar einen kleinen Plausch über die iranische Fußballnationalmannschaft der Frauen kann man mit ihm halten.
Um allein eine Springstunde zu halten, dazu reichen seine Deutschkenntnisse noch nicht. So überlässt er lieber Jürgen Schnelle das Training in der Springstunde. Jürgen Schnelle ist Pferdemensch durch und durch, mit 75 Jahren hat er als Reiter, Trainer und auch Richter viele Erfahrungen im Reitsport sammeln können. Und trotz seines Alters scheut er sich nicht, sein Wissen teils mit vollem Körpereinsatz zu demonstrieren.
Ob da jemand wie Ghasem überhaupt noch gebraucht wird? „Auf jeden Fall!“, bestätigt Olaf Trübner. „Er hat viele neue Ideen und Methoden mitgebracht und unseren Reitunterricht und unsere Arbeit mit den Pferden sehr bereichert.“
Ghasem Zonoubi war in seiner Heimat ein sehr angesehener Trainer. So hat er der Springreit-Mannschaft der Provinz Fars Unterricht gegeben und war auch als Bereiter tätig, das heißt, er hat junge Pferde ausgebildet.
Und vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei...
Zwei Reitschülerinnen galoppieren mit ihren Pferden durch die Halle, springen über einige der Hindernissen und passen auf, dass sie sich nicht aus Versehen umreiten. Wer schon einmal auf einem Pferd saß, der weiß, wie anstrengend diese Sportart ist und wie viel Multitasking und Konzentration das Reiten abverlangt. Und dann sind da auch noch zwei erfahrene Pferdefreunde, die jede Bewegung kritisch beobachten.
Die meisten Kommandos gibt Jürgen Schnelle, doch Ghasem Zonoubi gibt ergänzende Hinweise und Tipps. Meist macht er Jürgen Schnelle in gebrochenem Deutsch und Zeichensprache klar, was er sagen möchte und dieser gibt die Ansagen an die beiden jungen Damen in der Reithalle weiter. Jürgen Schnelle versteht ihn ausgesprochen gut – Pferde- und Reitersprache eben.
Ghasem läuft durch die Halle, stellt Hindernisse mal höher und mal niedriger ein und legt Stangen wieder auf, die ab und zu doch mal von den Pferden gerissen werden. Er wirkt dabei sehr zufrieden. „Ich mag es hier“, bestätigt er. Doch noch ist unklar, wie es für ihn weitergehen wird, wenn die Integrationsmaßnahme vom Internationalen Bund beendet ist. Ghasem Zonoubi lebt gern in Halle und seine Tochter besucht ein hallesches Gymnasium.
Ghasem hat auch noch einen Sohn, Pouria, der im Stall des weltberühmten Springreiters Ludger Beerbaum in Nordrhein-Westfalen arbeitet.
„Ghasem scheint auch größere und modernere Ställe als unseren gewohnt zu sein. Außerdem kennt er viele der internationalen Springreiter. Wenn die Integrationsmaßnahme beendet ist und er noch besser mit der deutschen Sprache zurechtkommt, dann kann ich mir vorstellen, dass er auch in den großen Ställen beliebt sein wird“, betont Olaf Trübner.
Doch bis es soweit ist, kann sich der Reitsportverein Halle (Saale) e.V. auf die Unterstützung von Ghasem Zonoubi verlassen. Die einzigen, die es vielleicht weniger freut, das könnten die Pferde sein. Denn wenn Ghasem im Sattel sitzt, dann hilft kein Bocken und Zicken – dann wird ordentlich gearbeitet. Fast täglich schwingt er sich während seiner Arbeit auf der Heideranch auf den Pferderücken.
In vielen Studien wurde festgestellt, dass Menschen dann am besten lernen, wenn sie Spaß an der gestellten Aufgabe haben und sich in ihrer Lernumgebung wohlfühlen. Demnach hat Ghasem also die besten Voraussetzungen, um auf dem Weg in eine erfolgreiche Zukunft in Deutschland ein Hindernis zu überwinden, dass größer ist als jeder Oxer – die Sprachbarriere. Und beim Reitsportverein Halle (Saale) e. V. zweifelt niemand daran, dass ihm dieser Sprung gelingen wird.